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Predigt zum Sonntag Kantate
Hören und lesen Sie die Predigt von Lehrvikar Helge Pönnighaus zum Sonntag Kantate 2020:
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Liebe Gemeinde,
die Geschichte des Volkes Israels beginnt in der Wüste. Am Berg Sinai gründet [konstituiert] es sich, hier bekommt es von Gott durch Mose vermittelt sein „Grundgesetz“, die Zehn Gebote. Hier schließt Gott seinen Bund mit dem Volk. Das Volk nimmt sein rettendes Handeln wahr, das er im Auszug aus Ägypten erwiesen hat. Das Volk erkennt die Taten Gottes an und verpflichtet sich: „Alle Worte, die der HERR gesagt hat, wollen wir tun.“ [1] Fortan ist Gott mit seinem Volk, er ist anwesend in der Stiftshütte, dem Zeltheiligtum, das Israel auf der langen Wanderung begleitet, mit anderen Worten, ein mobiles Wüstenheiligtum. Und er ist anwesend bei der Bundeslade, einem goldenen Schrein, in dem die Zehn Gebote aufbewahrt werden. Beides haben die Israeliten für ihn in der Wüste errichtet.
Das Volk kommt schließlich nach vielen Jahren ins Land Kanaan und nimmt es in Besitz. Doch es dauert noch lange Zeit, ehe König David beschließt, in Jerusalem einen Tempel für den Gott Israels zu bauen. Erst Davids Sohn Salomo ist es, der den Tempelbau vollendet. In einem großen Fest wird das Heiligtum geweiht.
Davon berichtet das 2. Buch der Chronik im 5. Kapitel:
„2 Da versammelte Salomo alle Ältesten Israels, alle Häupter der Stämme und die Fürsten der Sippen Israels in Jerusalem, damit sie die Lade des Bundes des HERRN hinaufbrächten aus der Stadt Davids, das ist Zion. 3 Und es versammelten sich beim König alle Männer Israels zum Fest, das im siebenten Monat ist. 4 Und es kamen alle Ältesten Israels, und die Leviten hoben die Lade auf 5 und brachten sie hinauf samt der Stiftshütte und allem heiligen Gerät, das in der Stiftshütte war; es brachten sie hinauf die Priester und Leviten.
[…]
12 [U]nd alle Leviten, die Sänger waren, nämlich Asaf, Heman und Jedutun und ihre Söhne und Brüder, angetan mit feiner Leinwand, standen östlich vom Altar mit Zimbeln, Psaltern und Harfen und bei ihnen hundertzwanzig Priester, die mit Trompeten bliesen. 13 Und es war, als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man eine Stimme loben und danken dem HERRN. Und als sich die Stimme der Trompeten, Zimbeln und Saitenspiele erhob und man den HERRN lobte: »Er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewig«, da wurde das Haus erfüllt mit einer Wolke, als das Haus des HERRN, 14 sodass die Priester nicht zum Dienst hinzutreten konnten wegen der Wolke; denn die Herrlichkeit des HERRN erfüllte das Haus Gottes.“
Was für ein Fest! Das ganze Volk kommt nach Jerusalem. Dicht gedrängt sehen die Menschen, wie die Lade und die Stiftshütte ihren neuen Platz im prachtvollen Tempel erhalten. Ein riesiger Chor und ein Orchester begleiten die Zeremonie, prächtige Musik lobt den HERRN und dankt für seine Güte und Barmherzigkeit. Und dann kommt Gott. Er selber zieht in das Heiligtum ein, erfüllt es wie eine Wolke, ist so gegenwärtig, dass niemand mehr den Tempel betreten kann. Was für ein Moment!
Liebe Gemeinde, so hätte ich mir das auch gewünscht, heute früh. Nach neun Wochen Abwesenheit von unserer Kirche versammeln sich viele Menschen aus Ketsch. Der Posaunenchor spielt, die ganze Gemeinde singt: „Christ ist erstanden“ oder „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren!“ Eine triumphale Rückkehr der Gemeinde in ihr „Wohnzimmer“, endlich ist die Zeit unserer „Wüstenwanderung“ vorbei.
So ist es heute früh nicht. Denn Gedränge ist tunlichst zu vermeiden, Gesang ebenso, auch der Posaunenchor darf nicht spielen. Das ist hart. Aber ist es wesentlich? Im Evangelium haben wir gehört: „Wenn [die Menschen ][2] schweigen werden, so werden die Steine schreien.“[3] Uns fehlt der Gesang, mir auf jeden Fall. Gott aber wird gelobt auch ohne unseren Gesang, ihn lobt die ganze Schöpfung. „Das Meer brause und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. Die Ströme sollen in die Hände klatschen, und alle Berge seien fröhlich vor dem HERRN…“[4] So haben wir es im Psalm gebetet.
Trotzdem, das Bild des Festes, des fröhlichen Treibens, des festlichen Gesangs, es ist uns sehr nahe. Es weckt in uns Sehnsuchtsbilder. Es erinnert uns an bessere Zeiten, Zeiten, auf die wir auch heute hoffen. Konfirmation wäre heute gewesen, auch so ein Fest mit voller Kirche.
Das Bild des festlichen Gottesdienstes, erfüllt mit Musik, es ist uns nahe, aber: Wohnt Gott in einem Tempel, einer Kirche, gar hier in Ketsch in der Johanneskirche? Die Vorstellung, Gott wohne im Tempel, er ziehe bei dem Fest zur Tempelweihe in dies Gebäude ein, ist uns fremd. Nach evangelischem Verständnis gibt es keine heiligen Orte, nicht den einen Ort, an dem Gott wohnt.
Gottesdienste können doch an jedem beliebigen Ort gefeiert werden: im Freien, in Privathäusern, in Gemeindehäusern, in Fußballstadien, in Opernhäusern oder Zuhause am Fernseher. Oder eben in Kirchen, denn Kirchengebäude sind einfach besonders gut geeignet und ausgestattet, um in ihnen das Evangelium zu verkünden und die Sakramente zu reichen.[5]
Also – Gottesdienste können überall gefeiert werden, weil Gott allgegenwärtig ist: Kein Ort der Welt ist gottlos, auch wenn es Orte gibt, an denen nicht dem Willen Gottes entsprechend gehandelt wird. Aber selbst an solchen Orten ist jederzeit Gottesdienst möglich. Selbst für Orten, in denen in extremer Weise dem Willen Gottes zuwider gehandelt wird, gilt dies. Ein gutes Beispiel dafür ist Paul Schneider, der „Prediger von Buchenwald“. Im KZ in Einzelhaft von seinen Mitgefangenen isoliert, versucht er ihnen Mut zu machen. Durch die Gitterstäbe ertönte an den hohen Festtagen seine Stimme auf den Appellplatz. Auch durch Schläge und Folter ließ er sich nicht davon abbringen. Selten kam er über die ersten Sätze hinaus, die Wärter brachten ihn mit roher Gewalt zum Verstummen.[6] „Kameraden, hört mich. Hier spricht Pfarrer Paul Schneider. Hier wird gefoltert und gemordet. So spricht der Herr: ‚Ich bin die Auferstehung und das Leben!‘“[7] 1939 wurde er im KZ Buchenwald ermordet.
Es ist so – Gottesdienste können überall stattfinden. Schon das frühe Christentum kennt keine heiligen Orte. Die Gemeinden treffen sich in Privathäusern oder einfachen Versammlungsräumen. Die Vorstellung des Tempels als heiligem Ort aber wird übertragen: Für Paulus ist die christliche Gemeinde der Tempel Gottes, jeder einzelne Christenmensch und die ganze christliche Gemeinschaft. „[W]isst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist […]?“[8] – „ Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid […]?“[9], wie er im 1. Korintherbrief schreibt. Auch Paulus stellt sich vor, dass Gott wirklich in seinem Tempel wohnt. Gott zieht in ihn ein, erfüllt den ganzen Tempel. Er füllt ihn aus mit seiner Heiligkeit. Aber dieser Tempel ist eben nicht ein Ort, ein Gebäude. Dieser Tempel ist die christliche Gemeinde, sind wir alle.
Die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden,[10] nicht die Institution und auch nicht das Gebäude, ist also heilig. Und darum ist das ganze Leben der Christen auch „Gottesdienst“[11] oder soll es nach Paulus zumindest sein. Der Dienst am anderen Menschen, an der Gemeinschaft der Heiligen, ja an der ganzen Gesellschaft ist Gottesdienst.
Wenn aber Gottesdienst überall möglich ist, wenn nicht der Ort, sondern die Gemeinde heilig ist, wenn das ganze Leben der Christen Gottesdienst ist, dann ist es nicht richtig zu denken: Wir kehren zurück in die Kirche, wir feiern jetzt wieder Gottesdienst. Das mögen wir so empfinden, und das empfinde ich auch so. Aber alles, was wir in den letzten Wochen getan haben, um anderen zu helfen, um andere zu schützen, in der Gemeinde und in der Welt, all das war unser Gottesdienst: Von Zuhause aus arbeiten und für andere Einkaufen; Besuche vermeiden und einsame Menschen anrufen; Masken tragen und für Kranke beten. Und wenn wir jetzt aus Solidarität weiterhin sehr vorsichtig sind, wenn wir im Gottesdienst nicht singen, wenn wir auf die Sakramente verzichten und Feste verschieben, dann ist auch das unser Gottesdienst.
Und das große Fest? Das Gedränge? Die Trompeten und Posaunen und die vielen Stimmen vereint zum großen Chor: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren!“? Es wird kommen. Wir werden diese Feste wieder feiern, auch hier in Ketsch, in der Johanneskirche. Darauf dürfen wir uns freuen.
Aber wir wissen: Unser Gottesdienst ist auch die Solidarität mit unseren Mitmenschen, in unserer Kirche und in der ganzen Gesellschaft.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen
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[1]: Ex 24,3c.
[2]: Wörtlich: diese.
[3]: Lk 19,40b.
[4]: Ps 98,7-9a.
[5]: Vgl. Rummelsberger Grundsätze; Kirchenverständnis nach CA7, vgl. HK 65.
[6]: So berichtet es Leonhard Steinwender, vgl. Margarete Schneider (Hg.): Der Prediger von Buchenwald. Das Martyrium Paul Schneiders, überarb. Neuaufl., Neuhausen-Stuttgart, 1981, S. 199ff.
[7]: https://www.evangelisch.de/galerien/154677/27-01-2019/geistliche-den-konzentrationslagern-der-nazis.
[8]: 1Kor 6,19.
[9]: 1Kor 3,16, vgl. auch 2Kor 6,16.
[10]: Vgl. CA7 und HK 54.
[11]: Vgl. Röm 12,1f.